St. Maria
Ideenwettbewerb
1. Preis
In Kooperation mit Habermann Architekten
Mitarbeiter: Philipp Janak, Lion Schreiber
Vorbemerkung. Das Ziel des Wettbewerbs ist die Sicherung der Zukunft von St. Maria, wobei die Erhaltung des Sakralraums in Funktion und Charakter im Zentrum steht, doch gleichzeitig eine nicht festgelegte Vielzahl von nichtsakralen Funktionen ermöglicht werden soll. Der Raum soll also gleichzeitig im Sinne seiner historischen Funktion eindeutig konnotiert und dennoch in vielfacher Hinsicht variabel sein. Als grundsätzliches Mittel der Zukunftssicherung wird die gewünschte Öffnung der Kirche gesehen, ein Bestreben, dem indes durch den historischen Bau, der keine Eingriffe duldet, enge Grenzen gesetzt sind. Ein gangbarer Weg, soweit es die architektonischen Möglichkeiten betrifft, ist eine stärkere Verzahnung mit dem urbanen Umfeld; der Gestaltung des Vorplatzes kommt somit für die Gesamtmaßname eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu.
Der Vorplatz. Hier besteht Handlungsbedarf – die aktuelle städtebauliche Situation kann kaum anders als unglücklich, ja desolat bezeichnet werden und bedarf dringend der Strukturierung. Drei Maßnahmen schlagen wir vor: die Versetzung des Paulinenbrunnens in die Achse des vorhandenen Plattenwegs als dessen Endpunkt, die Errichtung eines Kiosks am Schnittpunkt dieser Achse mit der Furtbachstraße und die Aufstellung einer Mariensäule im Zentrum des Vorplatzes in der Mittelachse der Kirche. Diese Dreieckskonstellation hilft, die Erschließung des Vorplatzes zu klären; Brunnen und Kiosk spannen eine Torsituation auf, mit dem Fokus auf die Säule, wodurch die Kirche wesentlich besser in das urbane Gefüge eingebunden wird. Die Säule selbst als das Zentrum des Vorplatzes ordnet diesen und läßt ihn als Platz mit stärkerem Bezug zur Kirche erfahrbar werden. Der Kiosk wird diesen nicht nur beleben, sondern auch dazu dienen, seine sozialen Funktionen zu unterstützen.
Die Außenbauten an der kirche. Entlang der Tübinger Straße bieten drei kleine Erker in der Tradition mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Anbauten an Kirchen Raum für eine Vielzahl wechselnder Funktionen – Verkaufs-, Markt- oder Informationsstände und anderes mehr. Als Vitrinen genutzt, etwa im Rahmen einer in der Kirche stattfindenden Ausstellung, dienen sie einer Öffnung des Kirchenbaus an prominenter Stelle, ohne daß dessen Substanz selbst in Mitleidenschaft gezogen wird. Im Winter wäre hier auch ein provisorischer Schutz für Obdachlose möglich. Entlang der Furtbachstraße sind Nebenfunktionen un-
tergebracht, Toiletten und Lagerräume, wodurch in vielerlei Hinsicht problematische Eingriffe in den Kirchenraum selbst überflüssig werden. — Die Anbauten sind, wie auch der Kiosk, allesamt als einfache Holzbauten von ephemerem Charakter zu denken.
Der Kirchenraum. Hier gilt es, die Ausgewogenheit und hohe räumliche Qualität des Baus unangetastet zu erhalten. Insbesondere wird Wert darauf gelegt, auch spätere Veränderungen, hauptsächlich die hölzerne Flachdecke, der sich der grandiose Raumeindruck nicht zuletzt verdankt, unverändert zu bewahren. Eingriffe sollen so gering wie irgend möglich gehalten werden. Um die gewünschte Flexibilität zu erreichen, wird auf feste Einbauten im Schiff verzichtet; die für die unterschiedlichen möglichen und aktuell nicht abschließend eingrenzbaren Nutzungen notwendigen funktionalen wie atmosphärischen Bedingungen werden mittels variabler Elemente geschaffen.
Der Boden. Hier wird ein einheitliches Niveau hergestellt, was nicht zuletzt das Feiern von Gottesdiensten in zeitgemäßer Form und in unterschiedlichen Konstellationen und Größen deutlich erleichtert, mit jeweils unmittelbarem Bezug zum Altar. Im Bereich der ehemals fest installierten Bänke wird ein hölzerner Hohlboden eingebaut. Hier sind in Kanälen die technischen Einrichtungen samt den jeweiligen Anschlüssen verborgen, was eine maximale Flexibilität der Nutzung erlaubt. Auch die Heizung ist hier untergebracht, zusätzlich in anderen Teilen des Fußbodens.
Die Prinzipalien. Taufbecken und Tabernakel werden in ihrer bisherigen Gestalt beibehalten. Was den Altar betrifft, kann zwar eine ortsfeste Installation ins Auge gefaßt werden, doch scheint uns die vorgeschlagene verschiebbare den Vorteil zu haben, daß dann für unterschiedliche Formen des Gottedienstes die jeweils optimale Position festgelegt werden kann – kleine, eher intime lassen sich auf den Chorraum beschränken, größere sich auf die Vierung beziehen, und große Veranstaltungen, die nach einem festlichen Einzug in die Kirche verlangen, füllen den gesamten Raum, jede in einer angemessenen Konstellation von Altar und Gebänk zum Raum, wesentlich unterstützt von der Variabilität des Beleuchtungssystems. — Auch ist so sichergestellt, daß die gewünschten anderen, nicht sakralen Aktivitäten, denen die Kirche Raum bieten soll, den gebotenen Respektabstand zum Altar einhalten können, ohne daß dieser seine raumbestimmende Funktion einbüßt.
Die Beleuchtung. Sie ist das Mittel, um für die unterschiedlichsten Nutzungen den jeweils geeigneten Raum und die angemessene Atmosphäre zu gewährleisten. Hierfür werden in regelmäßigem Raster Leuchten installiert, die mittels über der Holzdecke angebrachten Elektromotoren individuell in der Höhe justiert werden können. Die Steuerung erfolgt per Computer; unterschiedliche Raum- und Lichtsituationen sind so per Knopfdruck in kürzester Zeit herzustellen. Die Leuchten bestehen aus einem stark gebläselten Glasschirm, der unter einem Messingzylinder hängt. In letzterem befinden sich die Leuchtmittel, zwei Ringe aus Leuchtdioden, deren einer nach unten, der andere nach oben strahlt und bei denen nicht nur die Intensität, sondern auch die Farbtemperatur individuell geregelt werden kann. So läßt sich eine nahezu unbegrenzte Anzahl von Licht- und Raumsituationen herstellen, die ohne jeden baulichen Eingriff die Architektur des Kirchenraums modifizieren und den jeweiligen Anlässen anpassen – in technischer Hinsicht, doch vor allem in den atmosphärischen Qualitäten.
Amber Sayah schrieb am 22. Jubi im Feuilleton der Stuttgarter Zeitung unter dem Titel »Es werde Licht«:
Die Marienkirche an der Tübinger Straße war eines der zahlreichen Stuttgarter Verkehrsopfer der Nachkriegszeit. Das Schicksal des Schocken-Kaufhauses oder des Kronprinzenpalais, umstandslos abgerissen zu werden, um die vielen Autos durchzulassen, blieb dem neogotischen Kirchenbau zwar erspart, aber dafür verschwand er praktisch hinter dem in unmittelbarer Nähe vorbeidonnernden Verkehr auf der Paulinenbrücke. Erst mit der Befriedung der Tübinger Straße, der Ansiedlung von ein paar Restaurants vis-à-vis und einem neuen kleinen Platz vor dem Portal kehrte vor wenigen Jahren Leben in diese Ecke der Stadt und die Kirche mit ihren hochaufragenden, schlanken Türmen wieder in die Sichtbarkeit zurück. Zugleich öffnete sie sich für alle möglichen Veranstaltungen. »St. Maria als« lautet die etwas nebulöse Bezeichnung der katholischen Kirche für diese neue Doppelrolle des Bauwerks als Gotteshaus und Forum der Stadtgesellschaft. Der Titel soll einerseits totale Offenheit signalisieren, andererseits gibt er (gewiss unfreiwillig) zu erkennen, dass die Kirchenleitung auch nicht so genau weiß, was sie mit dem Gebäude will. Um sich Klarheit zu verschaffen und weil eine Sanierung ohnehin fällig ist, schrieb sie einen Ideenwettbewerb aus, aus dem, wie berichtet, der Fellbacher Architekt Fritz Barth in Arbeitsgemeinschaft mit Habermann Architekten aus Berlin als Sieger hervorging.
Spirituelle Aura und profaner Zweck im Widerstreit. Eine Mehrfachcodierung sakraler Räume ist immer gefährlich. Meistens geht sie schief. Kirchenräume verlieren ihre spirituelle Aura, weil der profane Zweck, dem sie zugleich dienen sollen, diese überlagert, ohne seinerseits zur freien Entfaltung zu kommen. In genau diese Falle ist die Mehrzahl der Wettbewerbsteilnehmer getappt. Mit Wehmut denkt man an das Motto des gerade über die Bühne gegangenen Tages des Bunds Deutscher Architektinnen und Architekten zurück: „Kreatives Unterlassen“, das hätte man auch den meisten Beiträgen gewünscht, wenn man sieht, wie geradezu blindwütig rechteckige Fenster in den Chor gesägt, Glaskäfige im Inneren aufgestellt oder Metallgestänge aufgehängt werden, die wie in der Stiftskirche wohl an das im Krieg zerstörte Gewölbe des Langhauses erinnern sollen, sich aus unerklärlichen Gründen aber im Tiefflug befinden, auf halber Höhe der Säulen. Ein Wettbewerber verstieg sich gar zu dem Einfall, eine veritable Kunstgalerie in der Marienkirche zu installieren, mit einem erhöhten Steg, der quer vor dem Chor und den farbigen Glasfenstern verläuft.
Gegenpol zu Kommerz und Rummel. Sensibilität für den vorhandenen Kirchenraum – eine dreischiffige Halle mit kräftigen Pfeilerreihen, die einen gelassenen Gegenpol zum Kommerz und Rummel draußen bildet – lassen diese Vorschläge ebenso vermissen wie die Hintanstellung des eigenen Architektenegos, zu schweigen von einem Gedanken an den Denkmalschutz, der solches Gebastel niemals zulassen würde. Der Bauherr kann von Glück sagen, dass er zwei brauchbare Beiträge erhalten hat und im Falle des ersten Preises sogar einen hervorragenden Entwurf. Meck Architekten aus München (2. Preis) akzeptieren den bestehenden Raum und schaffen darin einen abgegrenzten Bereich, der sich variabel nutzen lässt. Noch minimalistischer stellt sich die Idee von Fritz Barth dar: Der Wettbewerbsgewinner entfernt den podestartigen Holzboden im Mittelschiff, so dass eine durchgehende Bodenfläche entsteht, und hängt darüber Hunderte von elektronisch verstellbaren Pendelleuchten auf. Je nach Position bilden die Lampen einen planen Himmel aus Licht oder formen Lüstergirlanden, die ein bisschen an Kirmes und ein bisschen an Schinkels »Zauberflöten«-Sternenzelt denken lassen.
Ein Mehr an Poesie. Barth vollbringt damit das wahrhaft umwerfende Kunststück, auf die Neutralität der Aufgabe »St. Maria als« mit einem neutralen, allseitig flexiblen Konzept zu reagieren, ohne dass sich in der Summe null ergibt, wie bei einer Addition von Neutralitäten zu erwarten, sondern ein Mehr an Poesie, das sowohl den sakralen als auch profanen Charakter des Kirchenbaus unterstreicht. Als besondere Stärke des Beitrags bewertete die Jury, dass er obendrein die städtebauliche Situation der Kirche reflektiert: Ein neuer Kiosk, der Brunnen und eine Mariensäule werden so platziert, dass der Sandsteinbau wieder in der Mittelachse des Platzes steht. Der Bauherr sehe in den Entwürfen »eine gute Basis, um St. Maria als eine Kirche des Dialogs weiterzudenken«, heißt es in der Pressemitteilung zum Wettbewerb. Nun müssten die Kirchenoberen sich nur noch festlegen wollen. Danach sieht es bis jetzt jedoch nicht aus: »Auch wenn wir jetzt einen Siegerentwurf haben, heißt das noch nicht, dass wir das eins zu eins so umsetzen werden. Es ging darum, das Feld der Möglichkeiten auszuloten.« Man kann ewig so weitermachen. Oder sich entschließen, die Marienkirche als katholisches Pendant zum evangelischen Hospitalhof zu etablieren, das es mit diesem an Strahlkraft und Bedeutung als Gemeinschaftsort der christlichen und weltlichen Stadtgesellschaft spielend aufnehmen kann.